Tja, wozu ist Poesie nütze?
Eine interessante Frage, die in diesem Buch, das ich gerade zu Ende gelesen habe, erörtert wird … unter anderem! Nun, mich hat Poesie schon immer interessiert und ehrlich gesagt, habe ich noch nie intensiv darüber nachgedacht, wozu sie nütze ist. Mir gefällt ganz einfach, was Poeten/innen schreiben bzw. beschreiben. Es soll uns etwas nahe gebracht werden … oft sind es sehr schöne, erhabene Dinge.
Der erste Poet in dieser Welt muss erbärmlich gelitten haben,
als er den Bogen und die Pfeile zur Seite gelegt und versuchte hatte,
seinen Freunden zu erklären, was er innerlich gefühlt hatte,
als er sich der Erhabenheit einer Abenddämmerung gegenüber sah.Khalil Gibran
In dem oben erwähnten Buch habe ich diesen „Erklärungsversuch“ gelesen, und zwar mit grossem Interesse und Freude:
„Während sie auf das Boot warteten, das sie nach Venedig zurückbringen sollte, hatten sie ein Gespräch darüber angefangen, was Poesie eigentlich ist.
„Welche Beziehung besteht zwischen unserem Leben und den Gedichten, die wir in der Schule durchgenommen haben? Ein Gedicht auswendig können, ist das wie einen Lehrsatz auswendig können? Oder ist es etwas anderes?“
Es war immer Luisita, die sie mit ihrer begeisterten, neugierigen Art in solche Diskussionen verwickelte, die ihr nie eingefallen wären.
„Ich meine, welcher Unterschied besteht zwischen der Summe der Quadrate über den beiden Katheten und Vom Eise befreit …?“
„Der Lehrsatz formuliert ein Gesetz“, hatte sich Anselma vorgewagt, „etwas Abstraktes, das aber eine praktische Seite haben kann.“
„Und welche praktische Seite besitzt die Poesie? Keine! Die Poesie nützt überhaupt nicht, sie macht uns nicht satt, mit ihr können wir keine Häuser bauen wie etwa mit der Geometrie, und sie heilt uns auch nicht von Krankheiten.“
„Meinst du damit, man könnte auch ohne sie leben?“, hatte Anselma kühn gefragt. [….]
„Natürlich könnte man das! Vielleicht ginge es einem sogar viel besser. Schau dich doch um. Schau die Beccalossi und die Saltimpalo an (das waren ihre unangenehmsten Mitschülerinnen), glaubst du, die brauchen Poesie zum Leben? Oder eher einen dummen, reichen Mann, den sie rupfen können wie ein Huhn? Die werden sich nie fragen, was die Poesie ist oder was der Tod ist! Sie werden nie Unruhe, Ängste, Unsicherheit verspüren, ihr Leben wird verlaufen, wie das einer Plastikente, die in der Badewanne herumschwimmt. Ruhig, beschützt, ohne weite Horizonte. Sie werden sicher besser leben als ich und du, aber ist das wirklich ein Leben? Ein begehrenswertes Leben? Ein Leben, nach dem du auf dem Totenbett sagst: Jedenfalls war es ein ausserordentliches Abenteuer? Oder ist es nur ein Trugbild von Leben? Was ist das Leben ohne Geheimnis – und ohne den Willen, es zu ergründen – anderes als eine gähnend leere Ebene?“ [….]
„Wenn die Poesie keinen Nutzen hat, wozu gibt es sie dann?“, hatte Anselma bemerkt.
„Vielleicht, damit wir uns erinnern, dass gerade das, was zu nichts nütze ist, uns von den Affen unterscheidet. Was nützt Schönheit? Was nützt Erbarmen? Was nützt Harmonie? Die wichtigen Dinge sind nie zu etwas nütze.“ [….]
„Ich wünsche mir, dass die Poesie nie aus meinem Leben verschwindet“, hatte Anselma erklärt.“ (S. 13-16)
Oh ja, dachte ich, das wünsche ich mir auch!
Später dann (ab S.70) ging es um ein Gespräch über die „unbegreifliche“ Handlungsweise Gottes und überhaupt um dessen angezweifelte Existenz – ein kleiner Junge war gestorben. Unbegreiflich … warum so ein kleines Kind? Luisita haderte und „diskutierte“ laut mit Gott, was Anselma nie in den Sinn gekommen wäre.
„Ich kann mir nicht vorstellen, wie man mit Gott hadern kann“, hatte Anselma erwidert.
„Meinst du, das ist eine Sünde?“
„Nein. Das heisst, ja. Also, ich weiss es nicht, es macht mir einfach Angst. Wenn er alle Dinge erschaffen hat – von den Insekten bis zu den Sternen – , dann wird er doch wissen, warum er sie gemacht hat, oder nicht? Sind wir nicht vielleicht zu klein, um es zu verstehen?“
„Klein schon, aber fähig, Fragen zu stellen. Wenn er gewollt hätte, dass wir nur gehorchen und sonst nichts, hätte er uns gemacht wie die Ameisen, doch wir sind mit Phantasie begabt, im Unterschied zu den Tieren können wir uns empören. Nur unsere Gattung hat die Möglichkeit, ihre Lebensbedingungen jederzeit zu verändern.“
„Glaubst du?“
„Ich bin mir sicher! Wäre es nicht so, würde ich mich sofort umbringen“, schloss Luisita und lachte laut. [….]
Goldene Schuppen begannen auf ihre Köpfe zu regnen. Sie blickten auf und sahen ein Eichhörnchen, das eifrig an einem Lärchenzapfen knabberte, keineswegs geängstigt durch ihre Anwesenheit.
„Wahrscheinlich hast du recht“, hatte Luisa wieder angefangen. „Man sollte nicht versuchen, Dinge zu hinterfragen, die grösser sind als wir, sondern müsste leben wie die Kreatur da oben und den Augenblick geniessen. Doch wenn uns das gelänge, hätten wir keine Kunst, es gäbe keine Poesie, keine Musik. Wir würden leben wie Automaten, ohne Erinnerungen, ohne Hoffnungen, ohne Bedauern, Gewissensbisse oder Sehnsüchte. Nichts würde unser Herz rühren oder uns das Gefühl geben, dass wir weniger einsam sind.“
Anselma hatte sich halb umgedreht: „Erinnerst du dich an unseren Ausflug nach Murano?“
Luisita hatte gelächelt: „Was ist Poesie?“
„Genau.“
(Textauszüge aus „Luisito – eine Liebesgeschichte“ von Susanna Tamaro)
Besonders schön finde ich dann noch ein paar wenige, aber sehr aussagekräftige Worte – auf Seite 80. Anselma hat etwas Wichtiges verstanden und schreibt es mit grellem Filzstift auf ein Spruchband, das sie über ihrem Wohnungseingang befestigt:
„Willkommen! Mit siebzig beginnt das Leben!“
Es ist ein sehr berührendes und liebenswertes „Märchen“. Für mich ein Buch mit „Wiedererkennungswert“ – was das bedeutet, wird in einem Beitrag hier auf WordPress von Martin Kulik beschrieben:
http://postmondaen.net/2015/08/01/lesen-als-kunst-der-wiedererkennung/
Dieser Eintrag hat mich beeindruckt und er hat mir sehr gefallen. Absolut lesenswert!
Da wir ja alle mal sterben müssen, ist es gut zu wissen …
„Und deshalb, meine Freundin, sage ich, wenn wir denn sterben müssen, so lass uns handelnd sterben und nicht im Sitzen.“
Etwa die Hälfte des Buches habe ich nun gelesen und glaube schon jetzt sagen zu können, dass dies wohl der schönste Satz im Buch sein wird. Es ist mit 100 Seiten ein eher kleines Buch – aber mit enormer Wirkung auf mich. Erschreckend und doch voller Zuversicht – in Hinblick auf die Zukunft. Die Geschichte ist schnell gelesen, aber die Botschaft wird auch bei mir eine lange Nachwirkung haben, da bin ich sicher. Ich möchte hier vom Inhalt nichts vorwegnehmen, sondern auf die „Botschaft“ aufmerksam machen.
Warum ich es lese? Darum:
„Diese Geschichte hat mich gelehrt, dass den eigenen Fähigkeiten keine Grenzen gesetzt sind, wenn es darum geht, das im Leben zu vollbringen, was man muss – schon gar nicht durch das Alter.” (Velma Wallis schreibt dies im Vorwort des Buches)
Ich finde Bücher interessant, die etwas lehren – insbesondere, wenn das Gelehrte wichtig für die Zukunft sein könnte … später mal, wenn wir dann diese Weisheit bitter nötig haben!
Das Buch wurde mit dem Western States Book Award ausgezeichnet und seit seinem Erscheinen in siebzehn Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft.
Auf dieses Buch wurde ich aufmerksam, als ich Susanna Tamaro las – Luisito