Mein Herz ruft deinen Namen/Susanna Tamaro

Das Böse ist ein hässlicher Zwerg, der sich in dir versteckt

Der Inhalt des Buches, das ich gerade las, beschreibt das Leben eines Arztes, dessen Frau und kleiner Sohn bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Ein tragisches Schicksal, das er mit vielen Menschen teilt, deren Leben nach solch einem  Verlust wegzubrechen droht.
Jeder verarbeitet Schicksalsschläge anders und nicht wenige zerbrechen daran. Andere hingegen raffen sich nach einem „bösen Absturz“ wieder auf. So auch die Hauptperson im Buch. Wie er den Weg in diese Hölle erlebte, wie sich der Absturz vollzog und wie er dann wieder herausgefunden hat – als ein anderer Mensch – , ist in dem Buch sehr erschreckend, aber auch mitfühlend dargelegt. Vor allem, wie böse und gemein ein Mensch unter bestimmten Umständen werden kann, wenn der hässliche Zwerg in ihm tobt.

Der Protagonist erzählt über seine Kindheit, seine Erziehung, seine Karriere, seine Ehe und seinen Absturz in die Hölle, die er schmerzhaft durchschritt und wie er sie schließlich wieder verließ.

Wie viele von Susanna Tamaro´s Büchern ist auch dieses sehr ergreifend und emotional geschrieben.

Mit ein Grund, warum ich hier darüber schreibe, ist die Tatsache, dass ich mich in dem Buch „wiedergefunden“ habe – beim Lesen begegneten mir plötzlich Begriffe/Themen, die ich gerade vor ein paar Tagen erörtert habe – nun ja, manchmal gibt es solche Zufälle. Es war z.B. die Rede von:

Zeitvergeudung, Sticheleien, Muscheln und Perlen, es ging um „das Filigrane“ sehen können, anderen keine Vorwürfe zu machen, dann, wie schwer es ist, Nebeneinander zu gehen, wieder zum Kind werden … und schliesslich um „Das Böse“ (die zwei Welten, in denen wir leben bzw. die 1000 Seelen, die uns bewohnen. Ich schrieb in
https://seelenglimmern.com/2015/09/06/der-mensch-dieses-unzuverlaessige-wesen/
darüber.

Hier nun ein Textauszug zum Letztgenannten, der mich natürlich besonders angesprochen hat:
„Man muss blind und taub sein, um nicht zu merken, dass unsere Tage im Hintergrund ein beunruhigendes Knirschen begleitet.
Was ist das Böse?
Hat es ein Gesicht?
Einen Namen?
Eine Stimme?
Oder ist es still, unsichtbar, unversöhnlich, dringt in unsere Poren, vermischt sich mit unserem Kreislauf, unseren Knochen, unserem Nervensystem und wird – ohne dass wir es merken – ein untrennbarer Teil unseres Selbst?
Und wie viele Arten des Bösen gibt es?
Da ist das gröbste, instinktivste Böse – das Böse der Gewalttäter, der Mörder, und dann gibt es subtilere Arten des Bösen, das manipulative – die, die dich glauben machen, ein der Macht gewidmetes Leben sei schöner und gerechter, als ein der Liebe gewidmetes Leben.
„Wie wird man eigentlich so weise?“, hat man mich einmal gefragt.
„Indem man durch die Hölle geht“, habe ich geantwortet. Um hinaufzugelangen, muss man vorher sehr tief hinabsteigen.“
„Aber wie kommt man aus der Hölle heraus?“, drängte mein Gast weiter.
„Indem man auf Begegnungen vertraut.“
„Dann muss man sich also zuerst verirren, um den Weg zu finden?“, fragte er verblüfft.
„Ja, wie der Däumling im Wald.“ Ich lächelte. „Man muss sich zuerst verlieren, um sich wierderzufinden.“  […..]

Liebe Nora, wenn ich mir vorstelle, du hättest Zeuge der Jahre sein können, die auf deinen Tod folgten, schäme ich mich schrecklich.
Wie konnte ich nur so tief fallen? In irgendeinem Winkel meiner Person war offenbar ein verwerfliches Wesen versteckt. Solange du an meiner Seite warst, blieb es in einer Kammer eingeschlossen. Aber dann, nach deinem Tod, hat sich die Tür geöffnet, und der hässliche Zwerg hat begonnen, in mir zu toben und immer mehr Raum zu erobern. In diesen letzten Jahren, während ich den Geschichten und den Fragen vieler Menschen zuhörte, ist mir bewusst geworden, dass in uns allen so ein – mehr oder weniger anmaßender, mehr oder weniger frecher – Zwerg lebt.
Einige Lebensgeschichten, wie die meine, sind von Extremen gekennzeichnet; andere verlaufen in platterer Alltäglichkeit – dennoch ist niemand frei vom Zusammenstoß mit dieser Kraft, die uns unablässig und hartnäckig auf unser kläglichstes Niveau drücken will.  […..]

Jedes Herz birgt in seinem geheimsten Winkel ein Körnchen Weisheit – es erinnert sich an einen Ort, einen Augenblick, in dem es glücklich war, und nach diesem Ort sehnt es sich, dahin will es zurückkehren, so wie die Zugvögel beim Wechsel der Jahreszeit in ihr Land zurück wollen. […..]

„Und wie heißt dieses Land – das gelobte Land?“
„Es hat viele Namen, aber nur einen Wesenskern – die Unschuld, das Staunen, das Im-Herzen-rein-Sein.“
„Wieder zum Kind werden?“
„Zu einem unverdorbenen Blick zurückkehren, ohne Arglist, zu jenem Blick, der nicht in jedem Ereignis ein Mittel sieht, sondern eine Möglichkeit zu lieben.“
„Ist das sehr schwierig?“
„Ja, man braucht ein Leben lang, um zurückzukehren, und manchmal genügt ein Leben gar nicht. Und auch wenn du deinen Blick wiederfindest, musst du achtsam sein und aufpassen, denn der hässliche Zwerg lauert ständig – er erträgt es nicht, dass du aus der winzigen Welt geflohen bist, in die er dich verbannen wollte. Er flüstert dir nämlich ein, du seist irgendwo angekommen, er, der Zwerg ist es, der zu dir sagt: „Halt, du hast deinen Platz erreicht.“. Deswegen muss man sich die Ohren verstopfen wie Odysseus´ Gefährten bei den Sirenen und immer weitergehen.“
„Was heißt denn das, weitergehen?“, fragte das Mädchen noch.
„Es heißt, die Stille bewohnen.“

(aus  „Per sempre / Mein Herz ruft deinen Namen“, Susanna Tamaro – dt. von Maja Pflug)