Und Nietzsche weinte/Irvin Yalom

Nietzsches „Die fröhliche Wissenschaft“ gut erklärt …

“ 16.  Über den Steg

 Im Verkehre mit Personen, welche gegen ihre Gefühle schamhaft sind, muss man sich verstellen können; sie empfinden einen plötzlichen Hass gegen Den, welcher sie auf einem zärtlichen oder schwärmerischen und hochgehenden Gefühle ertappt, wie als ob er ihre Heimlichkeiten gesehen habe. Will man ihnen in solchen Augenblicken wohl tun, so mache man sie lachen oder sage irgend eine kalte scherzhafte Bosheit: — ihr Gefühl erfriert dabei, und sie sind ihrer wieder mächtig. Doch ich gebe die Moral vor der Geschichte. — Wir sind uns Einmal im Leben so nahe gewesen, dass Nichts unsere Freund- und Bruderschaft mehr zu hemmen schien und nur noch ein kleiner Steg zwischen uns war. Indem du ihn eben betreten wolltest, fragte ich dich: „willst du zu mir über den Steg?“ — Aber da wolltest du nicht mehr; und als ich nochmals bat, schwiegst du. Seitdem sind Berge und reißende Ströme, und was nur, trennt und fremd macht, zwischen uns geworfen, und wenn wir auch zu einander wollten, wir könnten es nicht mehr! Gedenkst du aber jetzt jenes kleinen Steges, so hast du nicht Worte mehr, — nur noch Schluchzen und Verwunderung.“

Die meisten Texte dieses grossartigen Dichterphilosophen Nietzsche lassen ja viele Interpretationen zu. Er ist nicht leicht zu verstehen und bei manchen Deutungsversuchen hatte ich gar kein gutes Gefühl, wenn ich so vor mich hindeutete, was ich las.

Natürlich habe ich daher auch sofort zugegriffen, als mir das Buch „Und Nietzsche weinte“ von Irvin Yalom in die Hände fiel – ich versprach mir davon, Nietzsche doch etwas besser verstehen zu können. Und siehe da:

Da stiess ich wieder auf die Stelle, die ich damals, als ich Nietzsche las, nie ganz verstanden hatte und fand eine „Enträtselung“ im Gespräch des Arztes, der Herrn Müller (Nietzsche) damals behandelte, mit Sigmund Freud:

„Während Breuer vorlas, schloß Freud die Augen, um sich besser sammeln zu können.

„‘Wir sind uns einmal im Leben so nahe gewesen, daß nichts unsere Freundschaft und Brüderschaft mehr zu hemmen schien und nur noch ein kleiner Steg zwischen uns war. Indem du ihn eben betreten wolltest, fragte ich dich: ‘Willst du zu mir über den Steg?’ – Aber da wolltest du nicht mehr; und als ich nochmals bat, schwiegst du. Seitdem sind Berge und reißende Ströme und was nur trennt und fremd macht, zwischen uns geworfen, und wenn wir auch zueinander wollten, wir könnten es nicht mehr! Gedenkst du aber jetzt jenes kleinen Steges, so hast du nicht Worte mehr – nur noch Schluchzen und Verwunderung.’“

Breuer ließ das Buch sinken. „Was halten Sie davon, Sigmund?“ „Ich bin mir nicht ganz einig.“ Freud erhob sich und ging vor den Bücherregalen auf und ab, während er sprach:

„Eine wunderliche kleine Geschichte. Wollen wir sie enträtseln:               Einer ist im Begriff, über den Steg zu kommen – das heißt, dem Freunde sich zu nähern -, als der andere ihn zu dem auffordert, was ohnedies sein Vorhaben war. Prompt ist dem ersten der Schritt nicht mehr möglich, da es ihm nun erschiene, als gebe er dem anderen nach – die Macht kommt der Nähe ins Gehege.“ 

„Ja! Ja, Sie haben vollkommen recht, Sigmund. Ausgezeichnet! Ich verstehe. Das heißt, Herr Müller muß jeden Ausdruck des Wohlwollens oder der Hinwendung als Griff nach der Macht empfinden. Wie seltsam; es vereitelt nachgerade jeden Versuch einer Annäherung. An anderer Stelle sagt er auch, wir empfinden Haß gegen die, welche unsere Heimlichkeiten sehen und uns bei zärtlichen Gefühlen ertappen. Was wir in diesen Momenten benötigen, sei nicht Mitempfinden, sondern die Gelegenheit, die Beherrschung über unsere Gefühle wiederzuerlangen.“ (Textauszug)

… die Macht kommt der Nähe ins Gehege. Weil wir niemandem Macht über uns einräumen wollen, verzichten wir lieber auf  Nähe. Es ist ein wirklich grosses Thema, das viele Dichter/Schriftsteller von  Anbeginn beschäftigt hat – bis heute.

Das Buch von Irvin Yalom finde ich sehr lesenswert! Zeile für Zeile macht es mir mehr Freude.