Verlassen
Wenn ich neben dir sitze
So muss dies nicht bedeuten
Dass ich bei dir bin
Meine Gedanken haben dich längst verlassen
So viele Paare leben vermeintlich „zufrieden“
nebeneinander her.
Wenn ich fern von dir bin
So muss dies nicht bedeuten
Dass ich dich verlassen habe
In Gedanken bin ich näher bei dir
Als wenn ich jetzt dicht neben dir sässe Liebe kennt keine Entfernung.
Ich lese gerade ein fesselndes Buch, das bei mir o.a. Gedanken aufwarf. Denn darum geht es.
Hier ein kleiner Textauszug, der dies verdeutlicht. Die Mutter versucht der Tochter „die Wahrheit“ zu erklären, nämlich warum ihr Mann schliesslich doch noch den Mut zur Trennung gefunden hat :
„Es ist seltsam, Julia, aber ein Geständnis, eine Offenbarung ist wertlos, wenn sie zur falschen Zeit kommt. Ist es zu früh, überfordert sie uns, wir sind noch nicht bereit dafür und wissen ihren Wert nicht zu schätzen. Kommt sie zu spät, ist die Chance vertan, das Misstrauen, die Enttäuschung schon zu gross, die Tür verschlossen. Was Nähe schaffen sollte, bringt in beiden Fällen nur Distanz […]
Wie konnte ich mich wehren? Wie konnte ich ihm heimzahlen, was er mir antat? Ich beschloss, meine eigenen Geheimnisse zu haben. Ich teilte weniger und weniger mit ihm, behielt meine Gedanken und Gefühle für mich. Er fragte nicht. […]
So lebten wir nebeneinander her … […]
War es die ganze Enttäuschung, die eine gescheiterte und dennoch fast fünfunddreissig Jahre währende Ehe mit sich bringt? Ein Scheitern, das wir uns nie eingestanden haben, weder dein Vater noch ich? […]
Als ich einsah, dass ich deinen Vater nicht so verändern konnte, wie ich es wollte, war es zu spät. Am Anfang blieben wir wegen euch Kindern zusammen, später fehlte uns der Mut zur Trennung, jedenfalls, was mich betrifft. Was deinen Vater angeht, bin ich mir über seine Motive nicht im Klaren. Vermutlich war ich es nie.“
Die Tochter jedoch will Klarheit und macht sich auf die Reise, um ihren Vater und dessen Geheimnis zu suchen. Eine spannende, geheimnisvolle und sehr berührende Geschichte. Hervorragend und sehr poetisch erzählt – voller Magie einer Welt, wie wir sie so nicht kennen.
Mit „Das Herzenhören“ ist Jan-Philipp Sendker ein ganz bezauberndes Werk gelungen … ich werde mir auf jeden Fall auch den Fortsetzungsband besorgen: „Herzenstimmen“.
Es hat zutiefst meine Seele berührt
… und ich frage mich, wie kann ein Mann solch ein Buch schreiben? Aber natürlich, denke ich, diese Frage hatte ich mir auch gestellt, nachdem ich Siddhartha und Das Glasperlenspiel gelesen hatte … Bücher, die man mit dem Herzen lesen muss – anders versteht man sie auch gar nicht. „Verstehen“, das war auch das Thema, das mich zu diesem Buch geführt hat. Hans-Georg Gadamer und seine Lehre über die Horizontverschmelzung. Texte verstehen! So viele Gedanken gehen mir durch den Kopf, seltsam, diese Zusammenhänge …
Er erzählt über sein Buch „Das Herzenhören“. Beim Schreiben hörte er Musik … klassische Musik von Puccini. In mir erklingt Madame Butterfly, vielleicht war es diese?
Als ich heute morgen aufwachte und am Frühstückstisch sass, sagte mein Mann mit etwas seltsamer Stimme: „Du hast elfeinhalb Stunden am Stück geschlafen!“. Ja, das ist ungewöhnlich. Gestern Abend, als ich nach der Arbeit nach Hause kam, dachte ich: „Puuh … mit letzter Kraft ins Wochenende geschleppt.“ Mein Kopf war kurz vorm Platzen, meine Nase lief unaufhörlich und meine Stimme klang wie ein Blecheimer – eine ganz schöne Erkältung! Ich habe mir den ganzen Tag über keine Ruhe gegönnt, sondern jede kurze Pause genutzt, um das Buch weiterzulesen … bis zum Ende. Dabei habe ich geweint.
Ich habe sehr tief geschlafen und geträumt … ein seltsamer Traum, ich erinnere mich nur noch ans Ende. Vor mir lagen eine Menge Stifte – Bleistifte und Farbstifte. Ich fragte: „Sind das harte und weiche Stifte?“ Jemand antwortete: „Nein, das sind alles „Schlungen!“ Hmm… klingt verrückt, nicht wahr!
„Schlungen“ ?? – ich erinnere mich an die vielleicht emotionalste Szene im Buch. Da stand: „Sie hatte ihre Arme fest um seinen Hals geschlungen“… das kann aber jetzt nur verstehen, der den ganzen Verlauf der Szene kennt. Ich wünschte, DU würdest dieses Buch lesen. Es erzählt so viel Schönes, Erstaunliches … du könntest dann mitfühlen.
Das Buch lässt mich immer noch nicht los. In meiner Seele haben sich Worte, Begebenheiten und Musik festgesetzt, die mir noch mehr erzählen wollen. Alles ist wie ein zartes Lied, das unaufhörlich weiterklingt.
Er erzählt über sein Buch:
… und vielleicht ist ja diese Musik in ihmerklungen, als er es schrieb 🙂
verstehen und VERSTEHEN ist nicht das Gleiche
Nun habe ich das ganze Buch gelesen und verstanden … alles, bis auf wenige Zeilen. Ich ahne, es sind sehr schöne Zeilen, von denen ich jedes Wort übersetzen kann: einzeln! Doch nur zusammengesetzt ergeben sie einen Sinn, der sich mir verschliesst. Da kann mir auch Hans-Georg Gadamer nicht helfen. Der hat sich eingehend mit den Texten/Gedichten von Celan auseinandergesetzt. Diese Zeilen jedoch sind von Pablo Neruda. Ich habe unermüdlich gegoogelt, aber keine Interpretation gefunden.
Natürlich könnte ich gewisse Leute fragen, die besser Englisch sprechen und verstehen als ich, aber die würden mal wieder nicht verstehen, warum ich überhaupt so etwas lese. Also frage ich erst gar nicht. Und den einzigen, den ich fragen würde und der mir vielleicht auch weiterhelfen könnte … na ja, bei dem ist mein Vertrauen inzwischen auch dahin. Er hat mich in (s)eine mysteriöse „Rubrik …“ eingeordnet, in der ich mich nicht wohlfühle, eben weil ich da gar nicht reinpasse.
So wie es also aussieht, werde ich wohl mal sterben müssen, ohne je den Sinn dieser geheimnisvollen Zeilen verstanden zu haben … kein schönes Gefühl, denn ich hätte wirklich gerne verstanden.
Die Zeilen werden in einem faszinierenden Buch zitiert, über das ich gerade berichtet hatte:
AND HOW LONG?
How long does a man live, after all?
Does he live a thousand days, or one only?
A week, or several centuries?
How long does a man spend dying?
What does it mean to say ‚for ever‘?
Den Rest dieses Neruda-Gedichtes habe ich dann noch im www. gefunden, aber keine Übersetzung und auch keine Interpretation dazu:
„Lost in these preoccupation
I set myself to clear things up.
I sought out knowledgeable priests.
I waited for them after their rituals,
I watched them when they went their ways
to visit God and the Devil.
They wearied of my questions.
They on their part knew very little;
they were no more than administrators.
Medical men received me
in between consultations,
a scalpel in each hand,
saturated in aureomycin,
busier each day.
As far as I could tell from their talk,
the problem was as follows:
it was not so much the death of a microbe —
they went down by the ton —
-but the few which survived
showeds signs of perversity.
They left me so startled
that I sought out the gravediggers.
I went to the rivers where they burn
enormous painted corpses,
tiny bony bodies,
emperors with an aura
of terrible curses,
women snuffed out at a stroke
by a wave of cholera.
There were whole beaches of dead
and ashy specialists.
When I got the chance
I asked them a slew of questions.
They offered to burn me;
it was the only thing they knew.
In my own country the undertakers
answered me, between drinks:
‚Get yourself a good woman
and give up this nonsense.‘
I never saw people so happy.
Raising their glasses they sang,
toasting health and death.
They were huge fornicators.
I returned home, much older
after crossing the world.
Now I question nobody.
But I know less every day.“
autógrafo
Pablo Neruda
Translation by Alastair Reid
Tja, ich weiss noch nicht warum, aber ich werde trotzdem mal dieses Gedicht hier festhalten – ich habe das Gefühl, es macht Sinn. Oft erschiesst sich der Sinn einer Sache ja erst hinterher …
Und jetzt lese ich den Fortsetzungsband von „Das Herzenhören“ 🙂