Während ich ihm zuhöre, schlägt sich vor meinen Augen ein Buch wie von selbst auf. Ja, genau so stelle ich ihn mir vor – so muss er gespielt haben! Ich blicke auf die Buchseiten, die ich schon mehrmals gelesen habe, weil es so faszinierend ist, dass ich es wohl nie vergessen werde. Ich hatte über dieses wunderschöne Buch berichtet:
Ich höre ihm nochmals zu und schlage mein Buch auf – ich kenne die Stelle genau, die mich so tief berührt hat:
[…..]
(Textauszug aus „Zeit der Zikaden“ von Andreas Séché)
Paganini … der Teufelsgeiger! Er war einfach genial.
In meinem vorangegangenen Eintag schrieb ich über Nemanja Radulovic: „Seine außergewöhnliche Technik und Virtuosität brachte ihm den Vergleich mit Paganini ein.“
Ja, genau so stelle ich ihn mir im Spiel vor (der „echte“ Paganini soll allerdings nicht ganz so attraktiv gewesen sein 😉 ) :
Ich liebe unvergessliche Bücher, die mich zu genialer Musik führen und ich liebe geniale Musiker, die ein Buch immer wieder in mir lebendig werden lassen 🙂
Übrigens, Hesse hat recht (sinngemäss!) : Ein gutes Buch und ein Ohr voller genialer Musik vor dem Zubettgehen, das ist besser als alle deine Schlafmittel.
Ich lese nochmals „Zeit der Zikaden“ und es fesselt mich wieder zutiefst, wie dieser Autor schreibt. Besonders ein Kapitel/Satz hat mich in Aufregung versetzt, zum einen, weil Musik (auch über sie zu lesen) mich augenblicklich in Schwingungen versetzt und zum anderen, weil in diesem Kapitel genau beschrieben wird, was mir so vertraut ist: der „Danse Macabre“, der Totentanz von Camille Saint-Saëns, dessen Musik ich so liebe. Während ich lese, spielt sich ein Film in mir ab. In erregenden Bildern und Klängen – ich sehe alles vor mir! Am Ende meines Eintrags werde ich diesen Film einstellen. Nun aber zur Szenerie und dem Buchtextauszug:
Selim befindet sich in einer Bibliothek und durchwühlt Bücher, Papierstapel und Noten. Er sucht ein passendes Stück, das er auf seiner Violine zu einer ganz bestimmten Gelegenheit spielen kann.
„Aber der Hahn hatte ihm ein anderes Stück von Saint- Saëns ins Gedächtnisgerufen. Eine sinfonische Dichtung, die zwar ebenfalls kein Solostück für Violine war, sich mit ihr aber dennoch bändigen liesse. Aus dem Bücher- und Papierstapel vor sich suchte er die Partitur heraus: den Totentanz.
Selim vertiefte sich in die Musiknoten.
Und lauschte ihrer Geschichte.
40. Satz
Appassionato (Der Buchautor hat seine Buch-Kapitel in Sätze gegliedert)
So regungslos, wie es für den Besucher eines nächtlichen Totenackers und seiner schlafenden Bewohner nur wünschenswert sein kann, liegt der Friedhof im dunkelblauen Licht. Um ihn herum hatte man einen verschnörkelten, mit spitzen Pfeilern bewehrten Zaun geschmiedet. Zum einen, um Ausbrüchen vorzubeugen, was einiges über die Lebenden sagt; zum anderen, um Einbrüche zu verhindern, was noch viel mehr übe sie verrät.
Der Mond schickt sein Licht durch den Nebel, aus dem zerbröckelnde Grabsteine ragen, letzte Fragmente des Gedenkens über dem Dunst aus Vergessen, im Verfall begriffen wie die Erinnerungen selbst. Die alten Grüfte wohlhabender Familien erheben sich neben den morschen Holzkreuzen der Besitzlosen, den selbst die Nacht hat ihre Hierarchien.
In den Ecken flackern die Feuerzungen der ewigen Lichter, die nur eine Illusion sind, da sie in Wahrheit wieder und wieder neu entzündet werden, vielleicht weil die Liebe der Lebenden manchmal eben doch immer aufs Neue entflammt werden muss. In der Luft liegt jenes Summen des Unfassbaren, das auf allen Friedhöfen und überhaupt an Orten des Todes aus sämtlichen Winkeln dringt.
Doch dann gibt es ein Geräusch sehr irdischer Natur. Drüben im Dorf läutet die Kirchturmglocke zwölf Schläge in eine bisher brachliegende Nacht hinein.
Noch während der letzte Glockenton verklingt, schreitet eine Gestalt durch das Friedhofstor und setzt sich auf einen der Grabsteine, eine achselzuckende Geste häuslicher Bequemlichkeit, die sich ausser ihr wohl niemand herausnehmen würde. Unter dem weiten Mantel holt sie einen Gegenstand hervor, den man in ihren Händen nicht erwartet hätte, weil seine Musik eigentlich viel zu unsterblich ist, um vom Tod berührt zu werden. Es ist eine Violine.
Der Gevatter ist gekommen, um Musik zu spielen.
Das Instrument hervorzuziehen, es ans klapprige Kinn zu legen und den Bogen anzusetzen, ist eine einzige fliessende Bewegung. Nur einen Augenblick später treibt die Violine ihre ersten verlangenden Töne mitten ins Herz der Stille. Und dann ändert sich alles.
Der Tod spielt Walzer, ausgerechnet. Musik aus schwungvoller Lebensfreude, gespielt an einem Ort, wo alles Leben endet, und von einem, dessen einzig bekannte Mission darin besteht, das Dasein auszulöschen. Kaum freigesetzt, möchte die fordernde Melodie gierig irgendwem in die Glieder fahren, und sie bleibt nicht ungehört. Überall reisst die Erde auf, und aus den Spalten klettern die Skelette und beginnen im Takt des Walzers zu kreisen. Das Mondlicht, das die Farben verblassen lässt, aber die Konturen schärft, bricht durch die leeren Brustkörbe. Immer mehr bleiche Tänzer fahren aus ihren Gräbern hoch und werden in den rauschenden Wirbel gesaugt, der durch die Kraft der gemeinsamen Bewegung selbst die willenlosen Nebelgeister mit sich zieht und ihnen Leben einhaucht.
Gevatter Tod reisst in Ekstase den Violinbogen so wild hin und her, als wolle er damit den Geigenhals absägen. Und immer leidenschaftlicher wirbelt mit klappernden Knochen durch die Nacht, was normalerweise bewegungslos unter der erde harrt. Zwischendurch könnte man meinen, der Strudel der Skelette käme atemlos zur Ruhe, aber dann bäumt er sich doch rebellisch wieder auf, weil die Erweckten erst von ihren Möglichkeiten ablassen wollen, wenn es gar nicht mehr anders geht, wie ein ausgehungertes Greifen nach jedem Bröckchen Leben, das man ihnen hinwirft. Und der Gevatter spielt, als die Nacht schliesslich unabwendbar ihren eigenen Tod zu sterben beginnt, gönnerhaft noch einmal kraftvoll auf, und jetzt legen die Tänzer erst richtig los, schwappen in einer Brandung aus saufenden Wellen über den Friedhof und überschwemmen alles mit ihrer Gier nach Leben. Unfassbar, wie sich erst am Ende aller Wege alles zu grösstmöglichen Tumult aufbäumt. Doch dann passiert, was sich auch mit der wildesten und selbstvergessensten Tanzerei nicht aus der Schöpfung herausschleudern lässt.
Die Nacht weicht dem Morgen [….]
… für die Skelette bedeutet er die Rückkehr in die Leblosigkeit, weil irgendetwas ihnen das Licht vorenthalten will, und auf einen Schlag gefriert die ganze Gesellschaft mitten in der Bewegung. Plötzlich herrscht absolute Stille, ein Moment aus Fassungslosigkeit und massloser Enttäuschung. Und dann sacken sie allesamt zusammen, zurück ins Erdreich, ohne Worte und ohne Widerstand.
Seelenlos.
Und tot noch dazu.“
(Textauszug aus dem wundervollen Buch „Zeit der Zikaden“ von Andreas Séché)
Und hier nun der Film/das Video zum Text, von dem ich sprach:
«Was reglos scheint, hebt vielleicht die Welt aus den Angeln. Was mit viel Getöse rumort, rührt womöglich nur Altbekanntes um und bewegt doch nichts.
Vermutlich waren die tobsüchtigen Wellen, die den Ozean in der Nacht durchwühlt haben, nichts weiter als gut kaschierter Stillstand. Und nun, wo das Meer friedlich und schweigsam in der Behaglichkeit eines schlaftrunkenen Morgens döst und sich nach menschlichem Ermessen nichts rührt, bereitet die Tide den nächsten Wandel vor. Denn keine Kraft der Welt vermag die Gezeiten des Lebens zu unterdrücken.
Mir jener sanftmütigen Trägheit, die sich nur gigantische Schöpfungen wie der Ozean, Wale oder der Mond gestatten können, gibt sich die blaue Wasseroberfläche mit einem kaum merklichen Schaukeln zufrieden. Vielleicht weil das grösste aller Meere sich an diesem Tag seinem Namen besonders verbunden fühlt, denn Ferdinand Magellan hat es den Pazifischen, den friedlichen Ozean getauft.
Am Strand beugen sich ein paar Palmen über weissen Sand, als sei dieser geschundene Inselstaat in den letzten Jahren nicht die Hölle, sondern das Paradies gewesen.
Möwen schweben über dem Wasser und kreischen in die Seeluft hinein, was immer ihnen in den Sinn kommt, denn sie gehören zu den wenigen Geschöpfen des Landes, denen die Möglichkeit unverhohlenen Gemeckers nie genommen worden war. Ansonsten schweigt der junge Tag, aber sein Atem ist in einer leichten Brise spürbar, die landeinwärts streicht.
Etwas schwimmt auf den Strand von Syrakesh zu. Nicht geradewegs, sondern in einem geduldigen Vor und wieder Zurück, auf den schwungvollen Umwegen eines Ozeanwalzers. Zur heimlichen Musik kleiner Wellen naht es heran, zögernd …. «
(Textauszug aus «Zeit der Zikaden» von Andreas Séché)
Voller faszinierender Bilder und dem Klang heimlicher Musik beginnt dieser wunderschöne Roman – ich schliesse die Augen und sehe und höre. Mir ist sofort klar: diesen Roman wirst du lieben! Ich fühle die Spannung, die sich in mir aufbaut. Jetzt bin ich gespannt auf das Geschehen in diesem Werk und finde auch bald, was ich von guten Romanen erwarte: eine aussergewöhnlich schöne Sprache, die klingt! Philosophische Anmerkungen, geschichtliche Hintergründe, die mein Wissen auffrischen bzw. ergänzen, Themen, die mich zum Erstaunen bringen, gefühlvolle Poesie … und Liebe!
Liebe, aber nicht nur die zwischen Mann und Frau, sondern Liebe zu allem, was existiert – im Buch z.B. die Liebe zu einer Violine. Und die Liebe des Autors zu seinem geschriebenen Wort, zu seinem Text, der all das zum Ausdruck bringt, was seine Gedanken bewegt, was sie zum Klingen und Tanzen bringt – wie kleine Wellen, die zur heimlichen Musik eines Ozeanwalzers tanzen.
Mich fesselt, was er (be-)schreibt. Das Fremdartige des Orients, die historischen Hintergründe z.B. zur Musikentwicklung und die Geschichte der Violine, das Leben der Dorfbewohner im fernen Syrakesh und deren Geschichte, die Schönheit der Wälder, die der Bäume und die des Ozeans. Alles und noch viel mehr – so sollen Bücher für mich sein.
Und nein, ich empfinde diesen «Liebesroman» nicht als «romantisch-fantastische Spinnerei“, sondern als ein Werk, das mich erinnern sowie auch weiterdenken lässt, welches mich neugierig macht und Einblicke in Themen gibt, die ich danach noch ergänzen möchte … aus Liebe zu dem, was existiert!
Ich habe gerade noch eine beeindruckende Rezension zum Buch entdeckt, die ich unbedingt lesenswert finde: