Ich lese nochmals „Zeit der Zikaden“ und es fesselt mich wieder zutiefst, wie dieser Autor schreibt. Besonders ein Kapitel/Satz hat mich in Aufregung versetzt, zum einen, weil Musik (auch über sie zu lesen) mich augenblicklich in Schwingungen versetzt und zum anderen, weil in diesem Kapitel genau beschrieben wird, was mir so vertraut ist: der „Danse Macabre“, der Totentanz von Camille Saint-Saëns, dessen Musik ich so liebe. Während ich lese, spielt sich ein Film in mir ab. In erregenden Bildern und Klängen – ich sehe alles vor mir! Am Ende meines Eintrags werde ich diesen Film einstellen. Nun aber zur Szenerie und dem Buchtextauszug:
Selim befindet sich in einer Bibliothek und durchwühlt Bücher, Papierstapel und Noten. Er sucht ein passendes Stück, das er auf seiner Violine zu einer ganz bestimmten Gelegenheit spielen kann.
„Aber der Hahn hatte ihm ein anderes Stück von Saint- Saëns ins Gedächtnisgerufen. Eine sinfonische Dichtung, die zwar ebenfalls kein Solostück für Violine war, sich mit ihr aber dennoch bändigen liesse. Aus dem Bücher- und Papierstapel vor sich suchte er die Partitur heraus: den Totentanz.
Selim vertiefte sich in die Musiknoten.
Und lauschte ihrer Geschichte.
40. Satz
Appassionato (Der Buchautor hat seine Buch-Kapitel in Sätze gegliedert)
So regungslos, wie es für den Besucher eines nächtlichen Totenackers und seiner schlafenden Bewohner nur wünschenswert sein kann, liegt der Friedhof im dunkelblauen Licht. Um ihn herum hatte man einen verschnörkelten, mit spitzen Pfeilern bewehrten Zaun geschmiedet. Zum einen, um Ausbrüchen vorzubeugen, was einiges über die Lebenden sagt; zum anderen, um Einbrüche zu verhindern, was noch viel mehr übe sie verrät.
Der Mond schickt sein Licht durch den Nebel, aus dem zerbröckelnde Grabsteine ragen, letzte Fragmente des Gedenkens über dem Dunst aus Vergessen, im Verfall begriffen wie die Erinnerungen selbst. Die alten Grüfte wohlhabender Familien erheben sich neben den morschen Holzkreuzen der Besitzlosen, den selbst die Nacht hat ihre Hierarchien.
In den Ecken flackern die Feuerzungen der ewigen Lichter, die nur eine Illusion sind, da sie in Wahrheit wieder und wieder neu entzündet werden, vielleicht weil die Liebe der Lebenden manchmal eben doch immer aufs Neue entflammt werden muss. In der Luft liegt jenes Summen des Unfassbaren, das auf allen Friedhöfen und überhaupt an Orten des Todes aus sämtlichen Winkeln dringt.
Doch dann gibt es ein Geräusch sehr irdischer Natur. Drüben im Dorf läutet die Kirchturmglocke zwölf Schläge in eine bisher brachliegende Nacht hinein.
Noch während der letzte Glockenton verklingt, schreitet eine Gestalt durch das Friedhofstor und setzt sich auf einen der Grabsteine, eine achselzuckende Geste häuslicher Bequemlichkeit, die sich ausser ihr wohl niemand herausnehmen würde. Unter dem weiten Mantel holt sie einen Gegenstand hervor, den man in ihren Händen nicht erwartet hätte, weil seine Musik eigentlich viel zu unsterblich ist, um vom Tod berührt zu werden. Es ist eine Violine.
Der Gevatter ist gekommen, um Musik zu spielen.
Das Instrument hervorzuziehen, es ans klapprige Kinn zu legen und den Bogen anzusetzen, ist eine einzige fliessende Bewegung. Nur einen Augenblick später treibt die Violine ihre ersten verlangenden Töne mitten ins Herz der Stille. Und dann ändert sich alles.
Der Tod spielt Walzer, ausgerechnet. Musik aus schwungvoller Lebensfreude, gespielt an einem Ort, wo alles Leben endet, und von einem, dessen einzig bekannte Mission darin besteht, das Dasein auszulöschen. Kaum freigesetzt, möchte die fordernde Melodie gierig irgendwem in die Glieder fahren, und sie bleibt nicht ungehört. Überall reisst die Erde auf, und aus den Spalten klettern die Skelette und beginnen im Takt des Walzers zu kreisen. Das Mondlicht, das die Farben verblassen lässt, aber die Konturen schärft, bricht durch die leeren Brustkörbe. Immer mehr bleiche Tänzer fahren aus ihren Gräbern hoch und werden in den rauschenden Wirbel gesaugt, der durch die Kraft der gemeinsamen Bewegung selbst die willenlosen Nebelgeister mit sich zieht und ihnen Leben einhaucht.
Gevatter Tod reisst in Ekstase den Violinbogen so wild hin und her, als wolle er damit den Geigenhals absägen. Und immer leidenschaftlicher wirbelt mit klappernden Knochen durch die Nacht, was normalerweise bewegungslos unter der erde harrt. Zwischendurch könnte man meinen, der Strudel der Skelette käme atemlos zur Ruhe, aber dann bäumt er sich doch rebellisch wieder auf, weil die Erweckten erst von ihren Möglichkeiten ablassen wollen, wenn es gar nicht mehr anders geht, wie ein ausgehungertes Greifen nach jedem Bröckchen Leben, das man ihnen hinwirft. Und der Gevatter spielt, als die Nacht schliesslich unabwendbar ihren eigenen Tod zu sterben beginnt, gönnerhaft noch einmal kraftvoll auf, und jetzt legen die Tänzer erst richtig los, schwappen in einer Brandung aus saufenden Wellen über den Friedhof und überschwemmen alles mit ihrer Gier nach Leben. Unfassbar, wie sich erst am Ende aller Wege alles zu grösstmöglichen Tumult aufbäumt. Doch dann passiert, was sich auch mit der wildesten und selbstvergessensten Tanzerei nicht aus der Schöpfung herausschleudern lässt.
Die Nacht weicht dem Morgen [….]
… für die Skelette bedeutet er die Rückkehr in die Leblosigkeit, weil irgendetwas ihnen das Licht vorenthalten will, und auf einen Schlag gefriert die ganze Gesellschaft mitten in der Bewegung. Plötzlich herrscht absolute Stille, ein Moment aus Fassungslosigkeit und massloser Enttäuschung. Und dann sacken sie allesamt zusammen, zurück ins Erdreich, ohne Worte und ohne Widerstand.
Seelenlos.
Und tot noch dazu.“
(Textauszug aus dem wundervollen Buch „Zeit der Zikaden“ von Andreas Séché)
Und hier nun der Film/das Video zum Text, von dem ich sprach: